Im Alltag sind wir im und am Tun: Wir verwandeln Möglichkeiten in Wirklichkeit durch Handeln – ob wir uns für diese Handlungen bewusst entschieden haben oder nicht. Dieses Tun nennen wir Praxis. Zur Praxis gehören einerseits Tätigkeiten mit unseren Körpern in der physischen Welt und andererseits Interaktionen mit Menschen und Computern mittels Sprache (= Code).
Wenn es nun darum geht, unsere Praxis zu ändern, ist eine dritte Aktivität notwendig: Denken, also Problemlösen mittels Begriffen. Das Medium für diese Aktivität ist ebenfalls Sprache. So kommt es, dass wir das soziale Interagieren, also «Sprechen» mit dem Probleme lösen, also «Denken», verwechseln.
Ich benutze die Begriffe von Lev Vygotskij1, der «Sprechen» und «Denken» definiert und voneinander abgegrenzt hat. Es ist notwendig, diese beiden Begriffe hier kurz zu erläutern: «Sprechen» ist gemäss Vygotskij ein System von Mitteln mit mehreren Zwecken: Es ist expressiv und dient dem eigenen Ausdruck, es ist sozial, denn ein:e Sprecher:in will sich mitteilen und es ist intentional, weil es Sinn enthält, also etwas meint. Das Ziel von «Sprechen» ist die Anpassung an die Wirklichkeit (Akkomodation gemäss Piaget) und das Einwirken auf die Wirklichkeit (Assimilation gemäss Piaget). Mittels Sprechen werden Soziale Systeme gebildet, wie sie Luhmann2 beschrieben hat. Wörter, also abstrakte Lautgebilde mit Bedeutung, sind die Elemente von «Sprechen».
«Denken» hingegen ist arbeiten. Es ist zielgerichtet, bewusst reguliert und auf die Lösung einer Aufgabe gerichtet. Das Mittel von «Denken» ist Sprache, Elemente sind «Begriffe», also abstrakte Gebilde mit Sinn, die ein Ding verallgemeinert haben, indem sie es einer Erscheinung oder Kategorie zuordnen. Begriffe sind zum grossen Teil Wörter. Und das ist der Grund dafür, warum «Sprechen» und «Denken» in unserer Wahrnehmung und in unserer sozialen Interaktion oft miteinander verwechselt werden.
Das «Denken» ist Kognition, eine psychologische Funktion, die sich entwickeln muss. Das menschliche Gehirn benötigt ca. zwölf Jahre, um in der Lage zu sein, abstrakte Begriffe zu bilden. Davor ist kein «Denken» im eigentlichen Sinne möglich, das, was Kinder tun ist «Sprechen». Dass Erwachsene, die «Denken» können und Kinder, die noch im reinen «Sprechen» sind, sich überhaupt verstehen, also miteinander kommunizieren können, liegt daran, dass sie mit demselben Mittel miteinander kommunizieren: Via Sprache. Kinder wie Erwachsene benutzen Wörter: Bei den Kindern sind es Lautgebilde mit Bedeutung, bei den Erwachsenen Begriffe.
Das Wort «Problem» trägt im Kern die Bedeutung «das Vorgelegte». Stossen wir Menschen in unserem Tun auf Widerstand, Hindernisse und Stolpersteine, entsteht für uns ein «Problem», viele dieser Probleme schaffen wir mit unserer Praxis bewusst und unbewusst aus unseren Welten (aus den Augen, aus dem Sinn). Dort, wo uns das nicht gelingt, müssen wir unsere Praxis verändern – und dazu müssen wir mit «Denken» beginnen. Das heisst aussteigen aus «Sprechen» und «Tun» und einen Raum ausserhalb der Zeit betreten, in welchem die Kommunikation mit sich und den anderen auf die Lösung einer Aufgabe fokussiert. Damit dieser Raum, in welchem Lernen stattfindet, betreten werden kann, braucht es soziale Sicherheit, denn es bedeutet, die alltägliche Praxis, den Autopiloten, auszuschalten, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und – vor allem – soziale Risiken einzugehen. Wer laut denkt, giesst Gedanken – also eigene Erklärungen, Meinungen und Überzeugungen – in Sprache und gibt diese – und damit sich selbst – dem Urteil durch andere Preis. Dadurch wird man sehr verletzlich, denn negative Reaktionen auf diese versprachlichten Gedanken können das Selbstbewusstsein erschüttern. Diese Sicherheit, welche Amy C. Edmondson als «psychologische Sicherheit3» definiert hat, ist ein Merkmal eines sozialen Systems und muss konstruiert werden.
Um Probleme lösen zu können, braucht es somit drei Zutaten: psychologisch sichere Menschen, Sprache und Begriffe. Es findet statt ausserhalb der Zeit:
Martin Buber4 hat dieses «Miteinander ausserhalb der Zeit» in seinem dialogischen Prinzip das «Ich-Du» genannt, und dieses vom innerhalb der Zeit agierenden «Ich-Es» abgegrenzt. Das «Ich-Du» meint ganzheitlich mit etwas in einen Dialog treten, dieses Etwas sind Gegenüber aller Art, also nicht nur andere Menschen, sondern auch abstrakte Dinge wie «Probleme». Im «Ich-Es»-Modus bewegen wir uns in der Zeit und reagieren und agieren bezogen auf einzelne Aspekte, also auf das, was wir im Moment (Zeit) an der Schnittstelle zu System-Umwelten selektionieren. Es ist der Ort, wo Möglichkeit zu Wirklichkeit gemacht wird und eine Vergangenheit erhält: Hier entsteht Praxis.
Will ich meine Praxis ändern, muss ich sie für mich zum Problem machen: Ich steige aus der Zeit aus, begebe mich in den Denk-Raum, trete mit meinem Gegenüber «Praxis» in Beziehung und spiele gedanklich verschiedene Szenarien durch: Das Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachten, Erklärungen variieren, mehrere Drehbücher für mögliche Fortsetzungen entwickeln… . Findet das Denken gemeinsam mit anderen statt, wird der Raum grösser, denn es kommen mehr Perspektiven und mehr Erklärungen zusammen, die im gemeinsamen Denken mehr Möglichkeiten generieren.
Aus der Praxis aussteigen und ins Denken wechseln braucht eine Entscheidung. Diese Entscheidung kann zu der kleinen Lücke zwischen Wahrnehmen und Tun führen, die zeitlich kaum messbar ist, oder sie führt in den grösseren Zeitraum des Reflektierens, der unter anderem die Form eines Retreats, eines Think-Tanks, eines Meetings, eines Reflexionsraum… annehmen kann.
Wieder in die Praxis wechseln braucht ebenfalls eine Entscheidung: Was von den Möglichkeiten schliesslich in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll und dann effektiv wird, also wieder in die Zeit kommt.
Denken braucht im Gegensatz zu reinem Sprechen mehr Energie. Es ist arbeiten. Und es fühlt sich anders an, als Tun: In meiner Erfahrung kenne ich wenig, was sich annähernd so befriedigend anfühlt, wie alleine – und noch intensiver mit anderen zusammen – über etwas nachzudenken und zu neuen Begriffen und dadurch zu neuen Lösungen auf Probleme zu finden. Für mich ist dies die Selbstwirksamkeit in ihrer reinsten Form.
Heutzutage wird viel über KI und ihre Möglichkeiten und Grenzen diskutiert. KI kann nicht denken, denn sie kann keine Begriffe bilden, da sie nicht mit «Sinn» operiert. KI spricht. Ich bin der Überzeugung, dass «Denken» das ist, was Menschen auch in Zukunft tun können und tun müssen, denn nur damit können Probleme gelöst werden.
PS: «Overthinking» ist nicht «Denken», sondern «Sprechen» mit sich selbst, denn es ist weder zielgerichtet, noch versucht es ein Problem zu lösen – im Gegenteil, es schafft eines…
Literatur
- Vygotskij, L. S. (2017) Denken und Sprechen: Psychologische Untersuchungen. 3. Originalausgabe. Weinheim: Beltz. ↩︎
- Luhmann, N. (2021) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. 18. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ↩︎
- Edmondson, A. C. (2021) Die angstfreie Organisation: wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen. 1. durchgesehener Nachdruck. München: Verlag Franz Vahlen. ↩︎
- Buber, M. (2021): Das dialogische Prinzip. 16. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. ↩︎